Mein Zuhause ist die Welt

Ein­jäh­ri­ges! Am 6. Februar 2023 haben wir die Schlüssel unserer Wohnung in München, Milbertshofen an die neue Eigentümerin übergeben. Beim Verlassen der Wohnung, die für 7 Jahre unser Zuhause war, habe ich dem Türrahmen zum Dank für die letzten Jahre noch einen freundschaftlichen Klaps auf die Wange gegeben und mich Marie Kondo Style für die gute Zeit bedankt. Anschließend haben wir uns ins Auto gesetzt und „Das Zelt“ vom Jeans Team auf sehr hoher Lautstärke aufgedreht, weil’s halt einfach gepasst hat. Seit dem sind wir nomadische Parasiten.

2015 noch im Rohbau: Da hinten war mal mein Schlafzimmer.

Februar 2023, 20 Minuten vor der Schlüsselübergabe. Der Kühlschrank sieht so traurig aus ohne die hässliche-Magnete-Sammlung!

Als klar war, dass wir aus München abhauen würden war gleichzeitig klar, dass man, um eine neue Wohnung irgendwo anders bezahlen zu können, erst mal die in München loswerden muss. Auch, wenn die neue Wohnung noch gar nicht im Bau war und frühestens in 1½ Jahren Einzugstermin wäre. Also musste eine Zwischenlösung her.

Zustand der neuen Wohnung in Weilheim nach Abgabe der alten. Der große Baum dahinten ist ein [Giant Sequoia](https://en.wikipedia.org/wiki/Sequoiadendrongiganteum)._ In Oberbayern ist er als Neophyt zu klassifizieren und wird so in ein paar tausend Jahren eine große Touristenattraktion sein.

Die Entscheidung, einfach mal für unbestimmte Zeit (wobei: maximal 2 Jahre, inshalla) ohne festes Zuhause zu sein kam relativ spontan und dank der Homeoffice-Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts kann – und sollte – man die Freiheiten, die das bietet auch nutzen.

So haben wir die Möbel auf www.ebay-kleinanzeigen.de (jajajaja, das heisst jetzt einfach nur noch Kleinanzeigen.de und Das-dänische-Bettenlager jetzt übrigens JYSK, ich weiss, ich weiss, ICH WEISS!) verschenkt und verkauft und den Rest bei meiner Mum im Keller versteckt.

Was noch in München übrig war passte in diesen Leih-Lieferwagen.

Die letzten Jahre habe ich mich viel mit dem Thema Minimalismus beschäftigt und dabei gelernt, was man wirklich braucht und was nicht. Spoiler: Ein glücklicheres Leben führt man IMHO nicht, wenn man möglichst viel Stuff ansammelt, sondern dadurch, dass man die wenigeren Dinge, die man hat auch wirklich braucht, nutzt und wertschätzt. Der Rest kann weg. Und das ist individuell sehr verschieden. Ich mag meine Schallplatten, andere macht ihre Zinn-Soldaten-Sammlung glücklich, mit denen sie die Schlacht von Verdun originalgetreu nachstellen können. No judging here.

Was hat mir das jetzt gebracht? Dass ich mit kleinem Gepäck durch die Welt tingeln kann und mir äußerst selten etwas fehlt. Ganz im Gegenteil, es ist für mich ein wahnsinniges Freiheitsgefühl, dass ich – wie letztes Jahr zu Beginn meines Nomadentums – mit einer kleinen Tasche voll Klamotten, bisserl Technik-Kram (und Kabel, oh diese verschissenen Kabel!) 2 Monate durch Asien tingeln kann und alles dabei habe was ich brauche. Bei Unterkünften habe ich auch kein wirklich großes Anspruchsdenken, 4 Wände, ein Dach drüber und sauber sollte es sein. Der Rest ist mir sehr egal. 2 Monate in Korea/Taiwan kosten mich so weniger als die meisten meiner Mitmenschen für 2 Wochen Sommerurlaub ausgeben. Kompromissbereitschaft is the key here. Gemietete Wohnungen hatten wir übrigens wenig kreativ über Airbnb oder Wunderflats (wobei das keine Empfehlung sein soll) organisiert.

Neben Asien habe ich im vergangen Jahr auch einiges von Zentraleuropa gesehen. 3 Monate in Berlin, 1½ in Regensburg, jetzt gerade 3 Monate in Garmisch-Partenkirchen – dazwischen mal hier mal da: Häuser und Wohnungen von Freunden und Familie in DE/AT/IT (daher auch parasitäres Nomadentum), im Dachzelt auf dem Autodach und dazwischen immer mal wieder in meinem Kinderzimmer; ap­ro­pos Kompromissbereitschaft.

Die Reaktionen auf eine solche Lebensweise fallen unterschiedlich aus, insbesondere im Smalltalk in wenigen Sätzen die Standardfloskeln – also wo man denn herkommt, was man da so macht – zu beantworten wird nicht leichter. Das von mir sehr verhasste “Hatten Sie ein gute Anreise?” wird da schnell zum Problem des Handlungsreisenden und wird dann einfach mit einem “ja” beantwortet. Und die echte Antwort, dass der Sanifair Kartenleser am Bahnhof/Autobahnraststätte wie immer kaputt war und man dann in Ermangelung von Bargeld einfach übers Drehkreuz gehüpft ist, um auf einem eigentlich menschenunwürdigen Klo seine Notdurft zu verrichten interessiert den Fragesteller – sind wir mal ehrlich – in Wirklichkeit sowieso nicht.

Wichtig für so einen Stunt ist außerdem, dass man sich halbwegs vernünftig mit seinem/seiner PartnerIn versteht. Unsere Wohnungen waren allesamt eher klein und man kann sich schlecht aus dem Weg gehen. Wenn die Partnerin also beispielsweise einen Job hat, bei dem sie 50% der Arbeitszeit damit verbringt, in Microsoft Teams Meetings unverständliche Abkürzungen in ihr Headset zu blöken und das Firmen-Notebook dabei durchgehend versucht, mit einem viel zu kleinen und dadurch hochfrequent heulenden Luftquirl warme Luftmassen aus dem Plastikgehäuse zu schaufeln, sollte man eine gewisse Resilienz gegen akkustische Luftverunreinigungen entwickeln oder zumindest über die Anschaffung eines noise-canceling Kopfhörers nachdenken. Dieses Beispiel ist frei erfunden, Ähnlichkeiten zu echten Personen sind nicht beabsichtigt.

Negativen Seiten hat eine solchen Lebensweise natürlich auch, für mich ist das eine mangelnde Alltagsstruktur. Selbst wenn man mal 3 Monate am selben Fleck ist (wie im Falle von Berlin letzten Sommer oder Garmisch-Partenkirchen jetzt gerade) fällt es schwer, Routinen zu entwickeln. Mehr Sport, gesünder essen, mehr schreiben, Sport jeden Tag – alles gute Ideen, aber creature-of-habit wirst Du halt nicht, indem du ständig in einem anderen Bett aufwachst, in einer Umgebung bist, auf die du nur wenig Einfluss hast und außerdem immer Ablenkungen zur Verfügung hast. Ich schreibe diese Zeilen während ich bei strahlendem Sonnenschein auf Deutschlands höchsten Berg blicke der mich anfleht, endlich raus zu gehen. Auch – und da wäre ich voher nie drauf gekommen – nervt es, keine selbst eingerichtete Küche zur Verfüng zu haben. Man lernt, mit dem was man hat zu arbeiten und wird vielleicht auch kreativer, aber ohne Nudelsieb, Pfanne oder Ofen kocht es sich halt schwierig.

Da stehe ich innerhalb von 30 Minuten wenn ich das Haus verlasse und nehme dafür eine 70er-Jahre-Bude gerne in Kauf.

Treuer Reisebegleiter: Squishy Mango auf seinem 5G Thron. Bring your own reliable Internet!

Aktuell sieht es so aus, als würden wir im November in unsere neue Bleibe einziehen können. Nach ganz genau einem Jahr ohne festes Zuhause bereue ich die Entscheidung, einfach mal darauf-los-zu-leben nicht im geringsten. Wir haben so viel sehen und erleben dürfen wie in noch keinem Jahr zuvor. Durch die Mischung von Fixpunkten für ein paar Monate und den dazwischen liegenden Phasen des jede-Woche-wo-anders-aufwachens war es vielleicht manchmal etwas chaotisch und anstrengend aber sicher war es eins nie: Langweilig.

Eine unserer parasitär genutzten Wohnungen kam mit diesem Dachpool an der Münchner Freiheit.

Abstraktion Weilheim in Oberbayern ca. 4024 a.d. – Socken in Sandalen kommen da gerade wieder in Mode. #giantsequioa


Lyrics: Jeans Team – Das Zelt

#parasiten #keinzuhause #weilheim #gerneralsherman #1stworldproblems